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Begegnung mit (der) Geschichte
43. Treffen des FCBD in Podelwitz/Sachsen vom 10. bis 12. Mai 2008

Ankunft auf dem Lande

Fährt man mit dem Auto wie früher, nur mit der Landkarte und seinem eigenen Kopf, ohne Navigationssystem durchs Land in Richtung der Orte, die Monate vorher der „Mayordomo“,  sprich Organisator des traditionellen Chile-Treffens zu Pfingsten den Freunden dieser Veranstaltung mitgeteilt hat, dann zeigen spätestens die chilenischen Fähnchen an Bäumen oder Laternenmasten mitten in Sachsen, dass das Ziel bald erreicht ist. Allein das Ankommen ist ein ganz besonderes Vergnügen. Wer wird wohl dieses Jahr dabei sein? Laute „Holas“ und Hallos, bunte Mützen und Bänder aus allen fünf chilenischen Burschenschaften und der befreundeten deutschen Verbindungen; lachende Gesichter, Schulterklopfen im Dutzend; nein du auch da, ja ich auch da, so lange nicht gesehen; Überraschung über die unvermittelt vor einem stehende Schulklassenkameradin, den Kommilitonen oder schlicht und ergreifend den Nachbarn von einst: so beginnt auch dieses Jahr das Treffen des FCBD (Freundeskreis Chilenischer Burschenschaften in Deutschland)  mit seinem unwiderstehlichem Charme, diesem kaum beschreibbaren und unnachahmbaren Gemisch von Lebens- und Wiedersehensfreude, von Rückbesinnung und Weiterspinnen alter Freundschaften.

Wasserschloss Podelwitz an der Mulde

Das ursprünglich als Wasserschloss angelegte Herrenhaus im darum gewachsenen kleinen Ort Podelwitz an der Freiberger Mulde bot mit den umgebenden alten Kastanien, Eichen und Ahornbäumen einen hervorragenden Rahmen für das Treffen, das dank des durchweg sonnigen Wetters überwiegend im Freien stattfinden konnte. Schon der erste Tag, der Samstag vor Pfingsten, war eine einzige Freiluftveranstaltung mit selbst bedientem Grill, selbst gezapftem Bier vom Fass, frischen Salaten (von der Lehrküche des hier ansässigen Bildungs- und Sozialwerks Tanndorf vorzüglich vorbereitet), mit einer von den 92 Teilnehmern mitgebrachten vielfältigen und reichlichen Auswahl an Kuchen und – wie nicht anders zu erwarten  – an chilenischem Rotwein, der sich in Deutschland wachsender Beliebtheit erfreut. Essen, Schwatzen und Trinken wurden nach Belieben durch leichte Spaziergänge an den Fluss oder durch die frühlingshaft blühende Landschaft unterbrochen.

Ein Rundgang durch das Schloss mit seinen hellen, einfach und gediegen,nach der Wende neu  eingerichteten Zimmern, dem ehrwürdigen Gemäuer und der steinernen Wendeltreppe, besonders aber der Besuch des hier eingerichteten Heimatmuseums ließ Interessierte Einblicke in die Geschichte dieses Ortes gewinnen. Eine unglaubliche Fülle von Gegenständen aus dem gesamten 20. Jahrhundert beschwor mit etwas Einfühlungsvermögen den Wandel der Zeiten herauf: in der „guten Stube“ mit ihren Möbeln, Porzellan und Gemälden die Jahre der Kaiserzeit, in weiteren sieben Zimmern die Tage der galoppierenden Inflation, das düstere „Dritte Reich“, den 2. Weltkrieg. Unzählige typische Produkte aus volkseigenen Betrieben, politische Wörterbücher und Abzeichen, die Urkunden für das beste Kollektiv oder die Portraits von Walter Ulbricht gaben Zeugnis von der Welt des sozialistischen Experiments in deutschen Landen. Eine ganze Seite des CONDOR reichte nicht aus, um all diese Dinge aufzuzählen, die in  jahrelanger Sammelarbeit zusammen getragen wurden.
 
Doch das eigentlich Bemerkenswerte am Ort des diesjährigen Treffens ist die Tatsache, dass auf Schloss Podelwitz hundert Jahre lang der Wohnsitz der Familie des Mayordomo war. Hier wurde er geboren und verbrachte seine ersten Lebensjahre. Den Freiherren von Reiswitz und Kadersin gehörte das Rittergut bis kurz nach Kriegsende 1945, als in der sowjetisch besetzten Zone mittels Bodenreform alle Güter über 100 Hektar enteignet wurden. Für die Familie bedeutete dies die Flucht nach Westen, die schließlich in Chile ihr Ende fand. Jahrzehnte später, nach dem Fall der Mauer und der Wende zum geeinten Deutschland konnten persönlich einige Kreise geschlossen werden.
  
Der erste Tag war ein wunderschöner Auftakt, und die Älteren dürfte es besonders gefreut haben, dass so viele Jugendliche den Weg zum Treffen fanden, darunter Studenten aus Chile, die gerade für einige Zeit in Deutschland ihre Ausbildung abrunden, sowie Kinder und Enkel derer, die sich noch an die Gründungszeit des FCBD vor fast 40 Jahren erinnern können. Schön, dass unter den Jüngeren der Wunsch aufkam, im Herbst ein eigenes Treffen zu organisieren, hat man doch durch die in Chile aufgewachsenen Eltern einen gemeinsamen Hintergrund. Und so fand man noch am späten Abend, als es bereits dunkel geworden war, unter Sternen und leise rauschenden Blättern sitzend manch fröhliche junge und jung gebliebene Gestalt ins Gespräch vertieft. Vielleicht klangen durch die sich ausbreitende Stille der Nacht die alten Verse Joseph von Eichendorffs:

            Es war, als hätt’ der Himmel
            die Erde still geküsst,
            dass sie im Blütenschimmer
            nun von ihm träumen müsst…

            …Und meine Seele spannte
            weit ihre Flügel aus,
            flog durch die stillen Lande,
            als flöge sie nach Haus.

Perlen aus der sächsischen Vergangenheit

Für Sonntag hatte das Mayordomo-Ehepaar Ausflüge in die Umgebung vorgesehen. Zwischen Leipzig und Dresden gelegen, steht der Raum um das Städtchen Grimma für einen wichtigen Teil der deutschen Geschichte der letzten tausend Jahre. Erste Orte am Fluss Mulde werden bereits 926 erwähnt. Um das Jahr 1000 siedeln hier Westslawen, Sachsen und Thüringer friedlich nebeneinander in jeweils eigenen Dorfgemeinschaften. Sehenswürdig sind die vielen  Burgen und Schlösser als Zeichen einer bewegten Geschichte und des Reichtums bereits früher Jahrhunderte in Sachsen, sehenswert auch die Wehrkirchen, die alten Klöster und die nach der Wende – nach dem großen Hochwasser von 2002 wiederum – herausgeputzten Städte wie Grimma und Colditz. Was wir besichtigten, konnte also nur Ausschnitt sein und Appetitanreger für zukünftiges Wiederkehren.

Mit dem Bus ging es vormittags durch eine liebliche Hügellandschaft, in der die gelben Rapsfelder hervorstachen, bis zur Burg Kriebstein hoch auf einem Felsen über dem Fluss Zschopau. Mit kundiger Führung wanderten wir durch Räume verschiedener Stilepochen von der mittelalterlichen Gotik über Renaissance, Barock, Klassizismus bis zu Biedermeier und Neuzeit. Im ältesten Teil der Burg, die urkundlich erstmals 1384 erwähnt wird, konnten wir lernen, dass im Mittelalter eine Ritterrüstung 54 Ochsen gekostet hat und ein Ritter, der auf sich hielt, mindestens drei solcher Rüstungen benötigte: eine fürs Turnier, eine für den echten Kampf und eine als Ersatz. Im Festsaal aus der Renaissance mit den gut erhaltenen Wandmalereien belehrte man uns, dass bei den Mahlzeiten nur Männer und höchstens die eine oder andere Frau von wahrhaft gehobenem Stand zugegen sein durften (die Sitten haben sich zum Glück geändert) und ein „Anstandshappen“ auf den Tellern für die Armen vor der Burg übrig gelassen wurde (vielleicht rührt daher die große Spendenfreudigkeit der Deutschen). Im barocken Teil fanden wir eine Doppeltoilette vor, deren Trennwand eine Öffnung für Gespräche hat, klare Auskunft also über die Herkunft des Satzes “ich muss mal ein Geschäft erledigen“. Im Wohnzimmer der Familie von Arnim, die 1825 die Burg und das Gelände darum herum ersteigerte, konnten wir die vollendete Ausstattung im Stile des Biedermeier (etwa 1815 – 1848) bewundern. Dieser Name stammt von einer Figur, die der Münchner Verleger Eilert über die Schriftenreihe „Abenteuer des biederen Herrn Meier“ in deutschen Landen verbreitete. Schließlich landeten wir im Arbeitszimmer des letzten Burgherren Erik von Arnim, ausgestattet mit schweren dunklen Möbeln, Kachelofen, Porträts der Familie und einem Telefon von 1930. Auch hier 1945 das gleiche Schicksal wie in Podelwitz. Heutzutage treffen sich die 500 Mitglieder der Familie von Arnim einmal jährlich auf der Burg und der Pianist Arnulf von Arnim konzertiert hier regelmäßig. Ihre bekanntesten Vertreter, allerdings aus der brandenburgischen Linie, sind Achim von Arnim, der Herausgeber (zusammen mit Clemens Brentano) der Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“, und seine Frau Bettina, eine Schwester Brentanos, die lange Zeit mit Goethe im Briefwechsel stand.
 
Am Nachmittag gab es Gelegenheit über die Mulde zu schippern, den Jutta-Park zu durchwandern, die mittelalterliche Wehrkirche zu Höfgen bei einer Furt durch den Fluss
zu besichtigen und sich in den Ruinen des Klosters Nimbschen zu verweilen, wo von 1509 bis 1523 Katharina von Bora als Nonne lebte. Unerschrocken und selbständig wie sie war, ist sie aus dem Kloster geflohen, zwei Jahre später heiratete sie den Reformator Martin Luther. Sie hat für ihn die praktischen Dinge des Alltags in einem umfangreichen Haushalt so tatkräftig und umsichtig erledigt, dass er sie oft in Liebe und Respekt „mein lieber Herr Käthe“ nannte.

Schnell wurde es wieder Abend und Gelegenheit, sich fein zu machen für den nächsten Glanzpunkt: das gesellige Essen auf Schloss Podelwitz. Beim Sektempfang unter den Kastanien im Vorhof gab es eine Rede des Mayordomo mit Grüßen derer, die nicht kommen konnten und Dankesworte des Schreibers dieser Zeilen an alle, die zum Gelingen des Treffens ihre Zeit und Energie einbrachten, allen voran natürlich an die Mayordomos Alfred und Annie von Reiswitz mit ihrer komplett anwesenden und voll engagierten Familie. Mayordoma Annie wurde, da es ja doppelter Feiertag war, als bescheidenes aber herzliches Zeichen des Dankes eine Rose zum Muttertag und eine Pfingstrose zum Fest gleichen Namens überreicht, beide mit chilenischer Burschenfindigkeit in Teamarbeit organisiert, den geschlossenen Blumenläden zum Trotz. Beim üppigen und liebevoll zubereiteten Buffet, begleitet vom reichlich vorhandenen Chilewein wurden wieder alte Erinnerungen und viele Geschichten aus dem Leben ausgetauscht und mancherlei Verabredungen getroffen.
 
Auch schönste Tage haben einmal ein Ende, so auch unser Treffen mit dem Katerfrühstück am Pfingstmontag, zu dem sich noch fast die Hälfte der Teilnehmer einfand, um die Reste vom Vortag gemeinsam in der warmen Sonne zu verspeisen, letzte Witze und Anekdoten für die Rückreise einzusammeln und sich gebührend vom schrumpfenden Haufen der Unentwegten zu verabschieden. Es waren Tage der Begegnung mit Freunden, mit der Geschichte dieses Landstrichs, deren Verzweigungen bis zur eigenen persönlichen Geschichte reichen. Adieu sagten alle den treu ausharrenden Mayordomos mit dem Trost der Vorfreude auf das nächste in dieser langen Reihe der Treffen zu Pfingsten, die nun schon eine eigene fast 40jährige Geschichte haben. Auf Wiedersehen 2009 in Aachen, wenn Wolfgang und Marion Teichert das Treffen des FCBD ausrichten werden!

Dr. Ingward Bey
Karlsruhe

 

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